bezeichnen und entziffern – zu Arbeiten von Monika Schneider
Text von Clemens Ottnad zur Ausstellung FLOWERING SECRET in der Galerie Oberwelt Stuttgart 2014

Vielfach erscheint die Versprachlichung bildnerischer Darstellungen ein angemessenes
Mittel zu sein, um deren oft rätselhafte Zeichensysteme wenigstens ansatzweise zugänglich
zu machen, wenn nicht sogar vollständig entschlüsseln zu können. Längst nötigen
aufwendige Museumsausstellungen ihren Besuchern am Eingang sodann aufdringlich den
obligatorischen Audioguide – kenntnisreich von Fachleuten verfasst, von angenehmer
Schauspielerstimme vorgetragen – auf, als würden sie entweder selbst an der
Überzeugungskraft der eigenen Exponate samt deren Präsentationskonzepte oder aber am
intuitiven wie kognitiven Wahrnehmungsvermögen ihrer Rezipienten zweifeln. Die
vorgeblichen Errungenschaften der Kunstvermittlung, ohne die inzwischen kaum eine
historische Schau, erst recht aber keine Ausstellung zeitgenössischer Kunst mehr
auskommen mag, lenkt so die Aufmerksamkeit auf immer dieselben Stücke, die gleichen
Inhalte, die manisch wiederholten Namen und Begriffe, als ob es in der
Auseinandersetzung mit dem vorderhand Geheimnisvollen ein weiteres Mal allein um die
bekannt eindimensionalen, erfolgsorientierten Leistungsmaximen der Industriegesellschaft
ginge: schnell gesehen, einfach erklären, bald vergessen.

Nicht genug damit, dass aktuelle Bildkunst an sich bereits meist hinreichend rätselhaft,
auch irritierend und verstörend formuliert ist, bezieht sich Monika Schneider in ihren neuen
Arbeiten auf ein mysteriöses Zeichen- und Bildsystem, mit dessen – mindestens bislang
zum Scheitern verurteilten – Entschlüsselungsversuchen Generationen von Schriftgelehrten
und Wissenschaftlern schon seid Jahrhunderten befasst sind. Die Zeichnungen und
plastischen Objekte der Künstlerin nehmen ihren Ursprung nämlich von sogenannten
Voynich-Manuskript aus, einer sagenumworbenen spätmittelalterlichen Handschrift aus der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Weder deren Verschriftlichung – folglich nicht die Sprache,
nicht der Text – noch die umfangreich enthaltenen handkolorierten Illustrationen konnten
über die Zeitläufe hinweg bis heute plausibel ausgedeutet werden. Sie wechselte als eine
Art Zauberbuch unter Alchemisten, habsburgischen Potentaten und neuzeitlichen
Kuriositätensammlern den Besitz, galt mal als englische Schöpfung des ausgehenden 13.
Jahrhunderts, mal als kryptologische Akrobatik späterer Epochen (stilistisch gesehen
möglicherweise norditalienischer Herkunft) oder schlicht als raffinierte Fälschung jüngeren
Datums. Die anhaltende Faszination aber – Das Buch, das niemand lesen kann. – bezieht
die Kraft aus seiner Unerklärlichkeit.

Die nach ihrem Wiederentdecker Wilfried Michael Voynich (eigentlich Michal Habdank-
Wojnicz, 1865-1930) benannte Handschrift (heute im Bestand der Beinecke Rare Books and
Manuscript Library, Yale University, New Haven, Connectitut, Kat.Nr. MS 408), der als
weissrussisch-polnischer Revolutionär nach zweijähriger sibirischer Verbannung zunächst in
London und nach eben noch geglückter Überfahrt mit der RMS Lusitania dann schließlich
1915 in New York ein Antiquariat eröffnet hatte, enthält eine  außergewöhnlich hohe Anzahl
das unbekannte Alphabet begleitender Zeichnungen in Tusche und in Farbe. Anhand der
farblich intensiven Darstellungen werden die einzelnden Textabschnitte gewöhnlich in
mutmaßliche Kapitel zur Pflanzenheilkunde, Astronomie; Frauenbäderkundliches,
Kosmologie, Pharmazeutik und Medizin eingeteilt.

Ohne allerdings weitere Rücksicht auf den kryptischen Text zu nehmen, konzentrieren sich
Monika Schneiders Zeichnungen in Kugelschreiber und farbenprächtige Aquarelle auf Papier
sowie die Materialarbeiten, die sie in Deckelgläsern zeigt, auf pflanzlich-organische
Erscheinungen, die gewissermaßen in Analogie zum über 500 Jahre älteren “Vorbild”
entstanden sind. Indem sie Blüten- und Blattformen, Wurzeln und Knospen, anatomisch
anmutende Körperteile, Gewebe und Strukturen isoliert und sie – individuell
nachempfundenen Wahrnehmungspräparaten gleich – in ihren zeichnerischen
Reihenuntersuchungen und in vitro präsentiert, vertraut sie der sinnlichen Eigenmächtigkeit
und selbstsinnigen Wirksamkeit vergangener wie gegenwärtiger Bildwelten mehr als jedem
naturwissenschaftlich begründeten Erklärungsmodell einer von Menschen vermeintlich
beherrschbaren Wirklichkeitswelt: das Bild gerät zum inneren Text.

Breiten sich die von der Künstlerin in Gläsern gefassten Form- und Farbvegetationen noch
aus Drähten, Fäden, Fundstücken in ihrem hermetisch abgeschlossenen, mikrokosmischen
Lebensräumen aus, fordern deren Urheberin die aufmerksamen Betrachter dieser Flowering
Secrets ausdrücklich dazu auf, mithilfe der von ihr zur Verfügung gestellten Knetmasse
selber bildhafte Analogien zu dem in der Ausstellung gesehenen zu schaffen. Monika
Schneider erweitert so die vorgenannte Eigenmächtigkeit nicht nur über das eigene Tun,
das eigene Sehen und Denken hinaus, sondern stellt anhand partizipatorischer Prinzipien
überzeitliche wie überindividuelle Kontexte eines scheinbar kollektiven geheimen Wissens
her, das einer ausschließlich rational basierten und technisierten Erfahrungsumgebung
widerständig zu trotzen versteht. Vielwissend und ahnungsvoll, kenntnisreich und
augenzwinkernd können demnach abgeschlossen geglaubte Schöpfungsprozesse von Welt
und Weltwirklichkeit kurzerhand unterbrochen und wieder neu aufgenommen, das Rad der
Zeit beliebig nach vorn und auch zurück gedreht werden; im Spiel der Sinne, in Körpern,
die aus Körpern wachsen, in denen zugleich vertraut erscheinenden und doch neuartigen
Gärten der Lüste entstehen so Bildrevolutionen, die selbsterklärend einer universalen
Sprache angehören.

Versuchen uns also alle möglichen Versprachlichungen von bildnerischen Darstellungen -
beziehungsweise deren darin Eingeweihte – weiszumachen, wir könnten leichternd
Bezeichnetes entziffern und lebten damit fürderhin beglückter, sehnen naturgemäß wir uns
in babylonischer Verwirrungen zurück, als die Tore von Göttern und das große
Durcheinander noch wie eins klangen. Unabhängig davon, ob es sich – as good time goes by -
beim Voynich-Kodex beispielsweise um ein mittelalterliches Dada-Konstrukt oder ein eroto-
balneologisches Pamphlet weiblicher Verführerinnen (zwischen weisem Wissen und
vorkneipp’scher Therapeutik) handelt, in Zeiten digitaler Demenz erscheint es notwendiger
denn je, auf individuelle Interpretationsbefähigungen und somit auch auf die
Deutungshoheit eigener Existenz zu beharren. Die Arbeiten von Monika Schneider bedeuten
dieserart nicht nur zeichenhaft-zeichnerische Vergewisserung des eigenen Selbst und der
persönlichen (Lebens-)Zeit, sie geleiten vielmehr auf andere Sprachwolken und Random
Walks zu letzten Geheimnissen, die immer auch Geheimnisse bleiben müssen, um in
Bildparadiese zu gelangen.

Clemens Ottnad

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